Viele Monde waren in seinem inneren Auge vorbeigeflogen. Von einem Kalender hatte er nie etwas gewusst, aber in seinem Alter hatte er schon viel gesehen und alles hat er in seinem Kopf gespeichert. Er beobachtete, dass die Blätter mal da waren mal nicht, dann waren sie hellgrün, grün und anschließend auch bunt. Danach fingen sie alle an zu fallen. Wenn alle gefallen waren, dann kam wieder die dunkle Zeit. Die Zeit ohne Blätter. Diese Zeit war die schrecklichste und genau diese Zeit war jetzt.
Dann wenn draußen alles feucht und schmutzig ist, manchmal, aber sehr selten, färbte sich die Erde dann auch weiß. Es waren keine Vögel zu hören und alles schien zu sterben. In dieser trostlosen Zeit, da starb auch seine Schwester. Es war als die großen Füße kam. Ihre Mutter hatte es ihnen allen beigebracht, auch seiner Schwester. Aber sie hatte nicht gehört und so war es geschehen. Seine Mutter war immer an ihrer Seite geblieben, auch jetzt war sie noch da, genauso wie sein großer Bruder. Er war nur ein paar Minuten älter, seine Schwester war jünger gewesen als er. „Haltet euch von den Füßen fern!“, das sagte sie immer. Nachdem die Füße seine Schwester getroffen hatten, die Füße mit der tiefen Stimme, und sie durch die Luft geflogen war, seitdem hatte er sie nie wiedergesehen. Aber daran dachte er gerade nicht. Das war schon zu lange her. Seitdem hatte er aber erstrecht auf seine Mutter gehört und das war gut so. Sie und sein Bruder, sie waren immer noch an seiner Seite. Viele andere waren gekommen und gegangen. Auch Mama war immer mal für kurze Zeit weg, immer dann, wenn sie einen dicken Bauch hatte. Aber sie kam immer wieder und alle freuten sich. Er fühlte sich dann immer besser, wenn sie da war.
Was er immer schon liebte, das war der Mond. Dem Mond war es auch egal, ob Blätter da waren oder nicht. Auch die Farbe interessierte ihn nicht. Er kam einfach immer wieder. Ganz schmal war er manchmal. Dann konnte man ihn kaum sehen. Dann wurde er langsam immer dicker, bis er rund und wunderschön war. Onkel Tom, der war auch dick, aber er wurde nicht wieder dünn, so wie es der Mond tat. Wenn der Mond zu sehen war, dann war alles möglich. Dann konnte er ausruhen, schlafen, mit den anderen kuscheln, auch mal leise toben. Es war gut, wenn der Mond da war. Dann waren sie unter sich, dann störten nie Füße. Genau so sehr wie er bunte Blätter liebte, so sehr liebte er auch den Mond.
Aber keines von beiden war jetzt da. Wie immer hielt sie sich in ihrer Lieblingsecke auf. Von hier aus konnte er super rausgucken. Nachts konnte er dann den Mond sehen und tagsüber den Wald. Und dann kamen sie wieder, die großen Füße. Eigentlich waren fast immer nur die großen Füße da, wenn überhaupt jemand da war. Jetzt aber, jetzt war alles anders! Es kamen ganz viele Füße, Füße die er gar nicht kannte. Kleine, dünne, große und dazu ganz viele Stimmen, Stimmen die er noch nie gehört hatte. Und sie wollten Mama. Er konnte es genau sehen, sie packten sie und nahmen sie einfach mit. Und sie hatte aufgepasst. Sie war hinter den Füßen geblieben und sie war in ihre Ecke gelaufen. Die Ecke, die immer sicher war. Sie hat versucht unter den Schrank zu klettern, aber da hat sie noch nie drunter gepasst. Sie griff einfach zu, die unbekannte Stimme. Er mochte nicht schreien. Aber sie nahm sie einfach weg. Und dann die anderen. Wir waren 13 und sie griffen einfach zu! Einen nach dem anderen.
Die Tränen fingen an zu laufen. Schreien ging nicht, das hat Mama immer verboten! „Das ist gefährlich!“, sagte sie immer. Wir sollten immer aufpassen, dass man uns gar nicht bemerkt und wir sollten immer zusammenbleiben. Und jetzt war sie weg, genauso wie Onkel Tom. Und jetzt, die nächsten Füße, sie ging auf meinen Bruder zu und wollten ihn einfach nehmen. Wir liefen nebeneinander, so schnell wie wir nur konnten. Unsere Körper zitterten. Unter den Schrank! Wir müssen darunter! Die letzte Möglichkeit! Der einzige Ausweg! Und dann war auch er weg. Auch bei ihm griffen sie einfach zu, die kleinen Schuhe waren es. Sie hatten keine Stimme, sie hatten nur Hände. Weg! Er musste weg! Aber der Boden war rutschig und der Spalt so klein. Er versuchte alles, aber auch er passte nicht darunter. In seiner Verzweiflung fing er an zu schreien und er sah sie nicht kommen. Sie kamen von hinten und waren recht groß. Dann griffen die Hände zu! NEEIIIN! Die Tränen rollten, er schrie und zitterte noch mehr.
Dann schlug ich die Augen wieder auf, ich zitterte noch immer! „Wo bin ich?“ Ich schaute mich um und erkannte es. Nun stand ich auf und kuschelte sich ganz dicht an sie. Zum Glück, es war nur ein Traum gewesen. Ein Traum von dem Tag, als alle bei den großen Füßen mit der dunklen Stimme auszogen. Viele hatten es nicht geschafft, aber ich wusste, dass Mama und mein Bruder gemeinsam bei einer ganz netten Dame wohnen, das hat sie mir erzählt. Und ich, ich lebte nun bei ihr. Sie ist sehr nett und auch hier bin ich nicht alleine. Zu viert sind wir. Wir sehen alle anders aus, nicht so wie früher. Wir 13 waren alle gleich, aber hier sind alle verschieden.
Hier gibt es auch ganz viele Füße und Stimmen. Füße in vielen verschiedenen Größen. Ein Paar ist meistens nackt und bewegt sich sehr unberechenbar. Wenn die mich aus Versehen treffen, die nackten Füße, dann werde ich danach ganz doll gestreichelt und die Jungenstimme entschuldigt sich bei mir. Die nackten Füße, sie gehören zu dem Jungen, der den kleinen, verrückten und schwarzen Hund betreut. Ja, hier haben wir alle jemanden der auf uns aufpasst. Die kleine Schwarze ist ein wenig größer als ich und wir schlafen im gleichen Raum, wenn die Nacht einbricht.
Da ist dann noch die großartige braunweiße Dame. Sie ist so elegant und hat etwas ganz Besonderes. Und sie riecht wunderbar. Ich versuche so oft wie möglich an ihr zu riechen. Das ist so schön, aber sie mag es nicht gerne. Manchmal knurrt sie mich dann an, dann verstecke ich mich immer schnell. Wenn sie es nur erlauben würde, dann hätte ich gerne Kinder mit ihr. Sie ist die Chefin von uns vieren. Wenn sie etwas sagt, und es reichen auch Blicke, dann halten wir uns alle daran. Manchmal verpasst die verrückte Schwarze ihre Ansagen, meistens geht es dann um Essen. Aber dann setzt sich die schöne und elegante Dame aber immer durch. Sie hat sich den Respekt wirklich verdient. Sie gehört zu den Füßen, die ganz oft mit einem Ball beschäftigt sind. Das ist ein wirklich tolles Paar. Leider schlafen sie ganz weit weg von uns. Ich würde mich gerne an sie ankuscheln, so wie ich es früher bei Mama gemacht habe.
Dann ist da noch der große Schwarze. Er liebt Streicheleinheiten und geht meist mit den längsten Füßen spazieren. Er ist so groß, das ist toll. Immer wenn ich Angst habe, dann gehe ich schnell in seine Nähe. Er kuschelt nur nicht gerne mit mir. Wenn ich wieder einmal Angst habe und an die alten Tage denke, dann würde ich mich gerne zu ihm legen. Aber das mag er nicht. Er liegt immer alleine in möglichst kleinen Körben. Das macht mich manchmal sehr traurig und dann gehe ich in mein Körbchen oder unter das Bett. Wenn wir spazieren sind, dann darf ich aber in seine Nähe. Dann beschützt er mich. Er ist echt toll. So groß wäre ich auch gerne, dann müsste ich auch keine Angst vor Füßen haben.
Als ich mich jetzt noch ein wenig dichter an sie heran schiebe, da merke ich, wie schön es ist. Hier kann ich nämlich auch an den Blättern schnuppern. Ich wusste gar nicht, dass man zwischen den Blättern spazieren darf, das sie rutschig sein können und wie viele verschiedene Düfte sie haben. Früher waren wir immer nur in dem einen Raum, da wo die Scheibe war und wir haben in die eine Ecke gemacht und in der anderen gegessen. Hier gibt es ein Esszimmer, einen kleinen Auslauf und den großen Spaziergang. Ich war vorher nie draußen. Alles ist hier total spannend. Jetzt, wo ich bei ihr so kuschle, da fange ich an von den Blättern in bunt zu träumen. Ich sehe mich mit meiner Traumfrau spazieren gehen und wir lachen und stürmen zu den Hühnern. Ja, Hühner….! Die kannte ich vorher auch nicht! Die riechen gut und wenn ich sie anbelle – ja, selbst das darf ich hier- dann laufen sie ganz schnell weg. Das finden wir vier alle lustig. Wir würden sie auch gerne mal probieren, aber das dürfen wir nicht. Dann schimpfen die Stimmen. Aber getreten haben die Füße zu den Stimmen noch nie. Hier, an ihrem warmen Bauch, da fallen mir die Augen zu und ich träume von einem wunderbaren Essen und anschließendem Spaziergang mit meiner Geliebten Maya.
Hier möchte ich alt werden. Auch wenn Mama und mein Bruder weit weg sind. Mein Frauchen, die werde ich nicht verlieren. Ich bleibe deswegen immer an ihrer Seite. Wenn sie sich bewegt, dann hebe ich den Kopf. Wenn sie aufsteht, dann stehe ich auch auf. Manchmal schaut sie mich so verliebt an, dann wedle ich ganz doll und freue mich, dass ich es so gut habe. Ja, von all dem träume ich hier an ihren Bauch gekuschelt.
Die Albträume werden wohl immer wieder kommen und dann kommt die alte Angst. Dann, wenn die Blätter weg sind und alles gestorben ist. Aber wenn ich dann wach werde, dann weiß ich, dass es nur in meinem Kopf war und das nun alle Wünsche eines kleinen Hundes in Erfüllung gegangen sind, hier bei ihr an ihrem warmen Bauch.
Merijam Eigebrecht, Januar 2021
In Gedenken an all die Hunde, die so viel schreckliches mit sich herumtragen und sich einfach nur ein ruhiges liebes Zuhause wünschen.